befreiung der „Sueños de Invierno“
Wofür die Erstbegeher José Luis García Gallego und Miguel Ángel Díez Vives im Winter vor 33 Jahren noch 69 Tagen benötigten, brauchte das deutsche Kletterduo Alexander Huber (47) und Fabian Buhl (25) gerade mal 9 Stunden: sie befreiten die berühmt-berüchtigte Route „Sueños de Invierno“ (zu Deutsch Winterschlaf) am asturischen Monolith Picu Urriellu – in Kletterkreisen besser bekannt als „Naranjo de Bulnes“ – und sorgten damit für Aufsehen in ganz Spanien. Denn mit der damaligen Verweildauer von über zwei Monaten nonstop in der Wand halten die Erstbegeher von 1983 bis heute einen Rekord – kein Mensch sonst lebte und kletterte so lange ununterbrochen in einer Wand. Und auch die puristische Absicherung trägt zum Mythos bei – außer an den Standplätzen verzichteten die Erstbegeher praktisch komplett auf Bohrhaken und genau aus diesem Grund haben Wiederholungen dieser Route echten Seltenheitswert. Huber und Buhl investierten gerade mal fünf Tage in das Auschecken der puristischen Route, bevor sie am 23. September 2016 die Rotpunktbegehung wagten, die ihnen auf Anhieb gelang. Noch während ihres Abstiegs machten sich bereits die ersten spanischen Medienvertreter auf den Weg nach Asturien, um über die Sensation zu berichten.
Text: Alexander Huber, Fotos: Heinz Zak
Eine der mythischen Routen der Klettergeschichte. 69 Tage in einer Wand. Ohne dabei auch nur einmal zum Boden zurückzukehren. Das ist ein echter Weltrekord. Und nicht nur das. Die Route, mit der José Luis García Gallego y Miguel Ángel Díez Vives ihr Können an die Wand projizierten, ist ein echtes Statement für das Klettern der Achtziger. Wenn man weiß, dass die Begehung im März 1983 begann, dann kann man sich vorstellen, dass das kein vertikaler Campingtrip war. Das war in vollem Umfang ein saukaltes Abenteuer inmitten der zivilisierten Welt Europas.
Der Picu Urriellu, ein Gipfel, den viele besser unter dem Namen „Naranjo de Bulnes“ kennen, ist der wohl prominenteste Klettergipfel der iberischen Halbinsel, zumindest gilt das aus internationaler Sicht. Keine andere Wand hat in der Kombination auch nur annähernd die gleiche Dimension, Steilheit, Schwierigkeit und Felsqualität. Und auch die vielen Begehungen, darunter vor allem auch die geschichtlich bedeutenden. Die Namen Rabada und Navarro haben sich hier als Erstbegeher der Westwand eingetragen und das in der geschichtlichen Nachfolge des legendären Cainejo, dem im August 1904 zusammen mit seinem Kunden Pedro Pidal die Erstbesteigung dieses freistehenden Kalkmonolithen gelang.
06. Dezember 2014. Zum zweiten Mal war ich mit einem Vortrag Gast beim Krakov Film Festival. Das enthusiastische Publikum ist mir dabei ebenso in Erinnerung geblieben wie auch die im Zusammenhang mit dieser Geschichte stehende Begegnung mit Adam Pustelnik. Wir saßen uns in einem Café gegenüber, jeder sein Bier in der Hand, und gespannt verfolgte ich seine Erzählungen und ich merkte ihm auch an, dass ihn diese Geschichte immer noch sehr bewegte. Zusammen mit dem Belgier Nicho Favrese hatte er im August 2011 die zwei Jahre zuvor von Iker Pou eröffnete „Orbayu“ wiederholt. Und nicht nur das… denn links davon wartete immer noch der gewaltige Überhang „Desplome de la Bermeja“ mit seiner mythischen Route „Sueños de Invierno“. Und da stiegen sie von der erfolgreichen Begehung der „Orbayu“ motiviert dann auch noch ein! Ein wildes Unternehmen, ein echtes Abenteuer, weil hier keine Bohrhaken die kletterbare Linie klar und deutlich aufzeigen. Die Erstbegeher arbeiteten konsequent daran, alles Mögliche an Mitteln zum Klettern zu verwenden, aber nur eben keine Bohrhaken: Friends, Keile, Haken, Skyhooks und vor allem: viele „Plomos“ - an die Wand gehämmerte Bleibatzen, die aus irgendwelchen Gründen tatsächlich das Körpergewicht eines Technokletterers aushalten können.
In der ersten Seillänge passierte dann ein Ereignis, das in einer mit Bohrhaken-gesicherten Sportkletterroute belanglos gewesen wäre. Nach den ersten 20 Metern brach Adam ein Griff aus und es ging dahin. Ein Friend brach aus, ein Haken und auch eine Sanduhr. Alles flog daher, Adam inklusive. Und alles bis zum Boden. Adam war kurz bewusstlos, überlebte den Sturz, war aber schwer verletzt. Kreuzbein, Brustbein und ein Lendenwirbel waren gebrochen, doch eine schnelle Rettung und eine gute Versorgung in Oviedo ließen ihn diesen Sturz gut überstehen.
Die Picos de Europa kenne ich schon lange. Bereits vor 15 Jahren war ich im Rahmen meiner ersten Vortragstour in Spanien in diesen Bergen unterwegs, damals allerdings im November. Und auch im Winter spürt man die besondere Ausstrahlung, die diese Berge haben. Nach der Begegnung mit Adam wurde diese Erinnerung wieder lebendig und im November 2014 machte ich mich zwischen meinen Vorträgen in Léon, Reinosa, Oviedo und Bilbao auf den Weg nach Asturien. Zusammen mit meinem Vater wanderte ich nach Bulnes, um die magische Gestalt des Picu Uriellu einmal aus der Nähe zu sehen. Nicht, dass ich daraus die Machbarkeit eines Projektes hätte ableiten können. Nein, mir ging es vielmehr um die Aura dieses Berges. Ich wollte von ihm in den Bann gezogen werden. Der beste Weg, um ein Vorhaben zum Laufen zu bringen…
Und da war es dann schon eine echte Koinzidenz, dass nur kurze Zeit darauf ein gewisser Fabian Buhl auf mich zukam und von genau dieser mythischen Route „Sueños de Invierno“ zu sprechen begann. Es liegt auf der Hand, dass man für so ein Projekt auch den richtigen Partner braucht. Und da ist der Fabi mit seiner endlosen Begeisterung für alles, was steil ist, genau der richtige! Und er hat die entsprechende Erfahrung und das Können, denn eins ist klar: hier kannst du nur mit jemanden unterwegs sein, der genau weiß, wie es sich im steilen Fels ohne Bohrhaken klettert. Und das gilt in der „Sueños de Invierno“ auch im zehnten Grad!
Anfang September hatten Fabi und ich für fünf Tage frei und wir machten uns auf den Weg zur Vega de Uriellu. Wir hatten beide tiefen Respekt vor der Wand und noch viel mehr vor der Route. Und genauso stieg ich auch ein. Mit großer Vorsicht, langsam, um ja keine Absicherungsmöglichkeit zu übersehen. Und ja, hier in das weitüberhängende, gelbe Felsmeer des „Desplome da la Bermeja“ einzusteigen, nötigte mir allen Respekt ab. Wild schaute der Kalk hier im großen Überhang aus, aber Gott sei Dank bestätigte sich der erste Eindruck nicht: so wild und brüchig es von unten wirkte, so fest und geradezu begeisternd griffig war der Fels!
Fabian startete in die zweite Länge rein. Da, wo es erkennbar spannend wurde. Und am Standplatz zwischen zweiter und dritter Länge war es tatsächlich extrem spannend, denn genau dort wurde es wirklich so kompakt, dass kaum noch Griffe zu finden waren. Die Erstbegeher hatten mit den Standbohrhaken eine fast strukturlose Zone überbrückt. Aber wir fanden eine Lösung dazu! Wir verbanden die zweite und die dritte Länge zu einem 60 Meter langen Marathon und umgingen die kompakte Zone am Standplatz einfach zwei Meter unterhalb an guten Griffen. Die guten Griffe gehen sogar in der ganzen Länge nicht aus, kein einziger wirklich schwieriger Kletterzug, aber die atemberaubende Steilheit und die schiere Länge treiben auch so die Schwierigkeiten nach oben.
Mit diesen Längen war der große Überhang der Bermeja unter uns und über uns das, was den „Naranjo de Bulnes“ ausmacht: eine graue Mauer aus bestem grauen Kalk. Und dort finden sich die in hakentechnischer Kletterei anspruchsvollsten Seillängen. Fabi widmete sich der ersten A4-Länge, ich arbeitete mich die A4+ -Länge hinauf. Es sind die Plomos, die die hakentechnische Kletterei in diesen Längen prägen. Bleibatzen, die in irgendwelche Unebenheiten im Fels geklopft werden. Ein probates Mittel, um sich mit Hammer und Steigleitern nach oben zu arbeiten. Aber es ist auch klar: wenn ein Plomo nicht hält, dann gibt’s den berühmten Reißverschluss – dann kommen auch gut und gerne mal gleich zwanzig Plomos daher! Dass diese zwei Längen rein von den technischen Schwierigkeiten her nicht das große Problem sein können, ist offensichtlich. Denn die Mauer ist zwar kompakt, aber überall finden sich wiederum auch feine Strukturen. Wer ein Gespür für senkrechte Wandkletterei hat, der sollte diesbezüglich auch kein Problem haben. Aber das Thema ist einfach die Absicherung. In der A4+ -Länge geht es mittendrin mal ganze 20 Meter von einem Camalot zum nächsten Camalot. Dazwischen gibt es zur Sicherung nur Skyhooks. Ganze fünf Skyhooks in Serie! Tatsächlich ist aber ein Skyhook durchaus ein brauchbares Mittel zur Absicherung, nur, dass es eben nicht grad übermäßig populär ist. Es blieb uns aber gar nichts anderes übrig, denn was anderes ließ sich in der grauen Mauer nicht unterbringen.
Leider waren die fünf Tage Kurzurlaub in Asturien nicht genug, als dass wir noch Anfang September einen Versuch einer Rotpunktbegehung hätten starten können. Aber es waren so schöne Tage dort oben an der Vega de Uriellu, dass Fabi und ich wussten, dass wir die Hüttenwirte Sergio und Tomás sicher nochmal besuchen würden. Ab dem 22.09. konnten wir zwei uns dann nochmal ein paar Tage von der Arbeit freischaufeln und wir hatten dabei das Glück, dass das Wetter mitspielte. Hochdruck und Sonne bei immer noch moderaten Temperaturen.
Aber es wartete ein strenges Programm auf uns. Sowohl Fabian als auch ich mussten an den Tagen zuvor arbeiten, in der Nacht packen für die erneute Reise zu den Picos de Europa, und nach nur drei Stunden Schlaf zum Flug von München nach Bilbao. Von dort aus waren es vier Stunden Fahrt nach Sotres und dann drei Stunden rauf zum Refugio Vega Uriellu. Eigentlich hätte ich da gut und gerne einen Ruhetag gebrauchen können. Aber für einen Ruhetag fehlte uns die innere Ruhe. Wir wollten da rauf! Zumindest aber schliefen wir am nächsten Morgen gut aus, denn in der Nordwestwand kann es ohnehin nicht schaden, dass die Temperaturen mit der Tageserwärmung ein Stück weit moderater werden. Um kurz nach elf Uhr startete Fabi mit der ersten Länge. Und schon gab es die ersten Probleme, er kämpfte kurz vorm Stand mit einem Skyhook als Sicherung. So lange, dass er am Ende beim letzten schweren Zug im hohen Bogen aus der Wand flog. Nicht gerade der traumhafte Start, den wir uns erhofft hatten.
Egal, es half eh nix. So startete eben ich mit der ersten Länge und es lief gut. Damit der Skyhook als Sicherung stabiler war, hängte ich ein Hilfseil ein, Fabi brachte es auf Zug und spannte somit den Skyhook nach unten ab. So saß der Skyhook stabil und ich konnte entspannt die Züge zum Standplatz durchziehen. Fabi stieg nach und hatte nach seinen zwei Versuchen natürlich gut Pump auf seinen Armen. Also startete ich in die zweite Länge, dem Sechzig-Meter-Marathon, der die originale zweite und dritte Seillänge zusammenfast. Von den reinen Schwierigkeiten her wäre diese Länge eigentlich bei weitem die schwierigste gewesen, aber eigentlich war diese Länge die am wenigsten anspruchsvolle. Denn hier gab es eine Fülle guter Sicherungen und damit reduzierte sich der Anspruch rein auf die gekletterte Schwierigkeit. Und die war mit 8a dann eigentlich recht moderat. Kontrolliert machte ich mich auf den Weg nach oben, Zug um Zug, von Rastpunkt zu Rastpunkt, bis mir – fünf Meter vor dem Standplatz, nachdem ich schon alle schwierigen Stellen hinter mich gebracht hatte – ein kleiner Griff ausbrach! Und schon ging’s ab nach unten. Genau das, was wir jetzt gar nicht mehr brauchen konnten! Wir waren sehr spät eingestiegen und eine zeitliche Verzögerung gar nicht mehr drin. Ich hätte da schon am liebsten alles hingeworfen und auf einen Versuch am nächsten Tag gesetzt. Aber der Fabi war immer noch voll motiviert und dachte nicht ans Aufgeben. Also weiter…
Auf geht’s! Geht scho! Ich war zurück am Standplatz. Das gute an einem gleichwertigen Team ist, dass man jederzeit die Rollen tauschen kann. Nach meinem Sturz setzte Fabi seinen Versuch. Stieg wie ich kontrolliert und sauber, nur den Griffausbruch ließ er aus, stieg durch und ich folgte ihm nach. Schnell weiter! Wir waren spät dran, Zeit hatten wir keine zu verlieren. Gott sei Dank waren die Schwierigkeiten auf einem Niveau, das wir kontrollieren konnten. Sauber klettern, hochkonzentriert. Den Skyhooks als Sicherung vertrauen und sauber durchziehen. Ab der Wandmitte ließ die Schwierigkeit nach und wir begannen zu fliegen. Der Sonnenuntergang am Gipfel lief uns zwar davon, aber das letzte Licht verstärkte auch so den Zauber des Moments. Ein Moment, an dem man sich selbst nicht mehr erklären muss, warum man das Ganze macht. Klettern ist einfach geil!